- südafrikanische Literatur
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im weiteren Sinn die im südlichen Afrika entstandenen, mündlich und schriftlich überlieferten literarischen Zeugnisse aus der Zeit vor und nach der europäischen Kolonialisierung; im engeren Sinn die Literatur der heutigen Republik Südafrika.Die südafrikanische Literatur wurde durch eine Vielfalt linguistischer und historischer Faktoren beeinflusst. Zu ihren frühen Leistungen gehören neben der in der mündlichen Erzähltradition Afrikas verwurzelten und zum Teil noch unzureichend erforschten Literatur in den afrikanischen Sprachen (v. a. Sotho, Xhosa, Zulu, Tswana) auch die für die Missionsschulen geschaffenen didaktischen und religiösen Schriften afrikanischer Schriftsteller, die ohne Ausnahme mehrsprachig waren, sich aller Genres bedienten und sich als Mittler zwischen den Kulturen verstanden. Der Xhosa-Priester und Dichter Tiyo Soga (* 1829, ✝ 1871) übersetzte J. Bunyan, Samuel Edward Krune Mqhayi (* 1875, ✝ 1945) und verfasste neben seiner auf afrikanischen Vorbildern basierenden Dichtung eine Xhosa-Grammatik. Sogas Gedichte erschienen in der Zeitung »Imvo Zabantsundu«, die John Tengo Jabavu (* 1859, ✝ 1921) 1884 gegründet hatte. Motiviert von der nationalen Bewegung (begründet 1912 von Pixley Kai Seme), die sich unter John Dube (* 1871, ✝ 1946) formierte und die in seiner 1903 gegründeten zulusprachigen Schrift »Ilanga lase Natal« ihr Forum fand, entstand 1910 T. M. Mofolos historischen Roman »Chaka« (deutsch »Chaka, der Zulu«) der wie die Romane des Zulu-Gelehrten Benedict Wallet Vilakazi (* 1906, ✝ 1947) die afrikanische Sichtweise der südafrikanischen Geschichte aufzeigte. Auch die Schriften S. T. Plaatjes, der die Folgen der Enteignung seiner Landsleute (Landgesetze 1913) einem europäischen Publikum darzulegen suchte, waren politisch motiviert. Daraus erwuchs eine v. a. englischsprachige Literatur des sozialen Realismus (R. R. R. Dhlomo, * 1906, ✝ 1971) und des Protests (H. I. E. Dhlomo), die sich an der Harlem Renaissance und R. Wright orientierte und in M. Dikobes Roman »The Marabi dance« (entstanden 1946, gedruckt 1973; deutsch »Der Marabi-Tanz«), bei P. Abrahams und E. Mphahlele auch das Leben in den Slums der Städte einbezog. Nach der Institutionalisierung der Apartheid 1948 wurde die Entrechtung der Schwarzen zum dominanten Thema, und die sozialen und politischen Trennungslinien zwischen den Rassen traten schärfer hervor. Ab 1951 sammelte die von weißen Apartheidgegnern finanzierte Zeitschrift »African drum« (später »Drum«) die progressiven Kräfte, u. a. Mphahlele, Bessie Head, Bloke Modisane (* 1923, ✝ 1986), Nat Nakasa (* 1937, ✝ 1964), Lewis Nkosi (* 1936), den Satiriker Casey Motsisi (* 1923, ✝ 1977), die Musiker Todd Matshikiza (* 1922, ✝ 1968), Hugh Masekela (* 1939) und Miriam Makeba, die an dem Musical »King Kong« (1961) mitarbeiteten, das die populären Musikstücke von Gibson Kente (* 1932) in den 1970er-Jahren inspirierte. Infolge der Auflösung der »gemischten« Wohngebiete und der sich verschärfenden staatlichen Unterdrückung erlahmte das kulturelle Leben in den 1960er-Jahren. Oppositionelle Intellektuelle und Künstler wurden inhaftiert oder vertrieben (D. Brutus, A. La Guma), ihre Werke, oft über ihr Leben in Südafrika, verboten. Auch viele Drum-Mitarbeiter wie Raymond Mazisi Kunene (* 1930), Keorapetse Kgositsele (* 1938), R. Rive, Arthur Kenneth Nortje (* 1942, ✝ 1970) gingen ins Exil. In den 1970er-Jahren erfuhren das Selbstverständnis der Schwarzen und ihr kultureller Widerstand durch die Black-Consciousness-Bewegung politisch neue Impulse. Das von diesem politischen Engagement getragene Theater (»Black Theatre«) erzielte mit »Shanti« (Uraufführung 1972) von Mthuli Shezi (✝ 1972), den Stücken des Workshop '71, der »Serpent Players« sowie von Zakes Mda (* 1948), Matsemela Manaka (* 1956), Maishe Maponya (* 1951), der »Junction Avenue Company« u. a. auch internationale Erfolge. Daneben trat eine direkt an die Betroffenen gerichtete Protestlyrik (O. Mtshali; M. W. Serote; J. D. Matthews; Mothobi Mutloatse, * 1950; Mtutuzeli Mathsoba, * 1950; Ingoapele Madingoane; Christopher van Wyk, * 1957). Die gewaltsame Niederschlagung der Schülerproteste in Soweto (1976) verstärkte die Kompromisslosigkeit schwarzer Schriftsteller (S. Sepamla, M. P. Gwala) sowie die Polarisierung der südafrikanischen Literaturszene (1981 Gründung der »African Writers' Association«). Die Zeitschrift »Staffrider« (gegründet 1978) förderte die sich neu formierende Literatur, u. a. auch indische Autoren wie Ahmed Essop (* 1931) und A. Dangor, Autorinnen wie Miriam Tlali (* 1933), Fatima Dike (* 1948), Gcina Mhlope (* 1952) und Jayapraga Reddy (* 1948). Der Perspektive und der Erfahrung der schwarzen Frau wird jedoch erst seit Mitte der 1980er-Jahre u. a. durch Ellen Kuzwayos (* 1924) Autobiographie »Call me woman« (1985; deutsch »Mein Leben«) und eine Reihe von Anthologien Rechnung getragen. Der 1987 gegründete »Congress of South African Writers« (COSAW) für Schriftsteller aller Rassen besitzt erstmals auch ein Frauenforum.Die englischsprachige Literatur, die sich nach der britischen Besiedlung der Kapregion entfaltete, verstand sich immer auch als Wahrerin des liberalen Gedankengutes, und ihre Vertreter engagierten sich häufig in literarischer wie politischer Hinsicht. Thomas Pringle (* 1798, ✝ 1834; »African sketches«, 1834; deutsch »Südafrikanische Skizzen«) und John Fairbairn (* 1794, ✝ 1864) kämpften gegen die Pressezensur, ebenso im 20. Jahrhundert L. van der Post, R. Campbell und W. Plomer, dessen Utopie einer rassenlosen Gesellschaft (»Turbott Wolfe«, 1925; deutsch) zukunftsweisenden Charakter besitzt. Gegentendenzen finden sich z. B. im Werk von Sarah Gertrud Millin (* 1888, ✝ 1968), die gegen die Verbindung der Rassen und kulturelle Assimilation Stellung bezog. Eine Verbindung zwischen der ländlichen Umgebung der realistisch-gesellschaftskritischen Romane von Olive Schreiner und Pauline Smith sowie H. Bosman, dessen Roman »Willemsdorp« (herausgegeben 1977) mit der Darstellung der Machtergreifung der Buren die ländliche Gesellschaft Transvaals politisch konkretisiert, sind Douglas Blackburns (* 1857, ✝ 1929) bissige Schilderungen des frühindustriellen städtischen Milieus. Mit seinem Plädoyer gegen die inhumane Apartheidgesetzgebung in »Cry, the beloved country« (1948; deutsch »Denn sie sollen getröstet werden«) erreichte A. Paton bereits in den 1950er-Jahren eine internationale Leserschaft. 1963 legte A. Fugard den Grundstein für das moderne engagierte Theater Südafrikas, das mit einer Vielzahl von Autoren und gemeinschaftlichen Produktionen (Barney Simon, * 1934; Geraldine Aron, * 1941; Paul Slabolepszy, * 1948) gesellschaftliche Schranken zu überwinden sucht und mit P.-D. Uys auch sprachlich innovative Wege beschreitet. Die sprachliche Brillanz und visionäre Perspektive Sydney Clouts (* 1926, ✝ 1982) sowie die Direktheit und Originalität Wopko Pieter Jensmas (* 1939) markieren Entwicklungsstufen der englischsprachigen Lyrik, als deren führender Vertreter heute D. Livingstone gilt. Bevorzugte Themen der Prosa (D. Jacobson; J. Cope; C. Hope; Sheila Roberts, * 1937; Peter Wilhelm, * 1943; Menan du Plessis, * 1952) sind die kritische Analyse der Vorurteile, Ängste und Gruppierungen der südafrikanischen Gesellschaft, die Ungerechtigkeit der Rassengesetze sowie utop. Entwürfe eines nachrevolutionären Südafrika. All diese Themen finden sich im Werk Nadine Gordimers, die 1991 mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurde, und bei J. M. Coetzee, der unter dem Einfluss der Postmoderne auch mit metafiktionalen Formen experimentiert (»Foe«, 1986; deutsch »Mr. Cruso, Mrs. Barton und Mr. Foe«), ohne jedoch den Bezug zur südafrikanischen Wirklichkeit aufzugeben. Der Lyriker Anthony Delius (* 1916) sowie Lionel Abrahams (* 1928), J. Cope und Stephen Gray (* 1941) machten sich auch als Kritiker und Herausgeber um die südafrikanische Literatur verdient. Ab Mitte der 1960er-Jahre etablierte sich als besondere rassenübergreifende Ausprägung der Autobiographie die Gefängnisliteratur, v. a. mit persönlichen Aufzeichnungen (Ruth First, * 1925, ✝ 1982; Hugh Lewin, * 1939; D. M. Zwelonke, B. Breytenbach, Indres Naidoo), aber auch lyrischen Werken (D. Brutus; J. Cronin, * 1945).Obwohl Afrikaans mit unterschiedlichen sozialen und regionalen Ausprägungen bereits gegen Ende des 18. Jahrhunderts in vielen Gebieten des südlichen Afrika gesprochen wurde, konnte es sich erst nach dem Burenkrieg als Literatursprache etablieren. Kennzeichnend für die afrikaanse Literatur sind ihre starke Bindung an die historische Erfahrung der Buren und ihre Selbstbehauptung als Volk sowie die daher rührende Verknüpfung von Kreativität, Religion und Staatsideologie. Das Streben nach einer anspruchsvollen nationalen Dichtung zeigt sich bereits bei den Dichtern der ersten Stunde wie J. F. E. Celliers, Totius und C. F. L. Leipoldt. Während sich D. F. Malherbe, der den Niedergang des ländlichen Lebens beklagt, noch einer romantischen Weltsicht verbunden fühlt, steht J. van Bruggen in der realistischen Erzähltradition. Auch Zweifel an den traditionellen Werten der Buren (E. Marais; Toon van den Heever, * 1894, ✝ 1956) sowie Ironie und Humor (C. J. Langenhoven, J. van Melle) fanden Eingang in die frühe Prosa. Hauptvertreter der nationalen Verinnerlichungsphase der 1930er-Jahre, in der die afrikaanse Literatur sich europäischen Tendenzen öffnete, waren die Brüder W. E. G. Louw und N. P. van Wyk Louw, C. M. van den Heever, Elisabeth Eybers, M. U. Krige sowie Izak David du Plessis (* 1900, ✝ 1981). In den folgenden Jahren setzten D. Oppermans konkrete Bildsprache, die neue Dinglichkeit P. Blums, die Intensität Ingrid Jonkers und die Darstellung aus der Perspektive der »farbigen« Südafrikaner (S. V. Petersen, * 1914, ✝ 1987; »Die kinders van Kain«, 1960) wichtige Akzente, die die radikalere ästhetische Position der Sestigers andeuteten. Neue Impulse erhielt die afrikaanse Literatur auch von Godfried Andreas Watermeyer (* 1917) und Barend Toerien. Die Sestigers, die den Roman (A. P. Brink; É. Leroux; Jan Sebastian Rabie, * 1920; C. Barnard), die Kurzprosa (H. Aucamp; Abraham H. de Vries, * 1937), das Drama (A. Small; Bartholomeus Jacobus Smit, * 1924; Dolf van Niekerk, * 1929) sowie die Lyrik (Breytenbach) erneuerten, markieren eine Wende. In ihrer Nachfolge stehen K. Schoeman, Wilma Stockenström und Johannes Daniel Miles (* 1938), der mit dem Mittel der Groteske die Alltäglichkeit der Gewalt aufzeigt. Einen internationalen Leserkreis fanden Elsa Joubert sowie Dalene Matthee mit Romanwerken über die Unmenschlichkeit der Rassengesetze. Daneben überwiegen kleinere Prosaformen. Junge Autoren wie Welma Odendaal (* 1951; »Keerkring«, 1977), Louis Krüger (»n' basis oorkant die grens«, 1984), Etienne van Heerden (* 1954; »Toorberg«, 1986; deutsch »Geisterberg«) und Alexander Strachan (»Die jakkalsjagter«, 1990) streben nach einer Vertiefung des Erzählens (besonders deutlich in der Darstellung der Gewalt in dem mit Angola geführten »Grenzkrieg« und in der Thematisierung sexueller Gewalt, u. a. bei Riana Scheepers, »Dulle Griet«, 1991). Bei Gawie Kellermann, Koos Prinsloo (* 1957) und Corlia Fourie zeigt sich ein der europäischen Postmoderne verpflichtetes differenziertes Bewusstsein von der Komplexität der Sprache als Darstellungsmittel der Realität, die sich als Konglomerat stereotyper Sichtweisen und mythischer Vorstellungen präsentiert.Mit der Überwindung des Systems der Apartheid befand sich die südafrikanische Literatur in einer Umbruchsituation. Die Abschaffung der Zensur und der Wegfall des Gegners aus der Zeit des Befreiungskampfes auch auf internationaler Ebene ermöglichte nun die Aufarbeitung bisher verdrängter Themen der Vergangenheit mit den Mitteln der Literatur. Die verbotenen Werke exilierter Autoren können nun auch in Südafrika erscheinen. Andererseits ist die in etwa elf nationalen Sprachen geschriebene Literatur vor neue Herausforderungen gestellt, da es mit dem Wegfall ausländischer Unterstützung zu einem weitgehenden Zusammenbruch des Verlagswesens kam. Wichtigstes literarisches Genre bleibt die Lyrik, da sie - v. a. über Zeitungen und Zeitschriften - die größte Öffentlichkeit erreicht. In traditionell in der südafrikanischen Literatur stark vertretenen autobiographischen Texten werden Lebensgeschichten von denen veröffentlicht, die bisher zu den Opfern des Alltags gehörten. Jüngere Autoren wie die Lyriker Lesogo Rampolokeng (* 1965) oder Sandile Dikeni (* 1966) artikulieren ihre Kritik an gesellschaftlichen Fehlentwicklungen. Von wachsender Desillusionierung geprägt, äußern sich auch weitere Stimmen zunehmend kritisch, so z. B. B. Breytenbach, Robert Berold (* 1948), K. Kgositsile, A. Essop. Gleichzeitig entstehen auch Werke, die das Lebensgefühl einer orientierungslosen Jugend nach dem Ende der Apartheid zum Ausdruck bringen. Doch bleibt die Aufarbeitung der Apartheid weiterhin ein zentrales Thema, so u. a. bei J. M. Coetzee, A. Brink, Z. Mda, B. Breytenbach und Antjie Krog (* 1952) mit ihren Berichten zu den Anhörungen der Wahrheits- und Versöhnungskommission (»A country of my skull«, 1999). Die Geschichte von Weiß und Schwarz in Afrika greift Zoë Wicomb (* 1948) in ihren Romanen auf. Als einer der wenigen »weißen« Autoren versucht Mike Nicol (* 1951) afrikanische Erzähltraditionen aufzugreifen und diese mit Techniken des modernen Romans zu verknüpfen (»This day and age«, 1992; deutsch »Seit Jahr und Tag«). Atmosphärisch dicht und mit surrealistischen Bildern arbeitend, sind die Texte des Romanciers Ivan Vladislavic (* 1957).Modern South African stories, hg. v. S. Gray (Neuausg. Johannesburg 1980);A. S. Gérard: African language literatures (Harlow 1981);J. C. Kannemeyer: Die Afrikaanse literatuur 1652-1987 (ebd. 21990);M. Seidenspinner: Die Literaturen Südafrikas, in: Krit. Lex. zur fremdsprachigen Gegenwarts-Lit., hg. v. H. L. Arnold, Losebl. (1983 ff.);R. Mshengu Kavanagh: Theatre and cultural struggle in South Africa (London 1985);Companion to South African English literature, hg. v. D. Adey u. a. (Craighall 1986);A land apart. A South African reader, hg. v. A. Brink u. a. (London 1986);The paperbook of South African English poetry, hg. v. M. Chapman (Craighall 1986);Raising the blinds: A century of South African women's stories, hg. v. A. van Niekerk (Parklands 1990);M. Van Wyk Smith: Grounds of contest. A survey of South African English literature (Kenwyn 1990);Afrikaans literature in translation. A bibliography, hg. v. B. J. Toerien (Kapstadt 1993);H. Egner: Genrewechsel. Zum Einfluß der Produktions-, Distributions- u. Rezeptionsbedingungen auf die südafrikan. Lit. der Apartheid-Ära (1995);
Universal-Lexikon. 2012.